Richtungsweisende Entscheidung für digitale Gesundheitsangebote
21. August 2025
Das Sozialgericht München hat mit Urteil vom 29.04.2025 (Az.: S 56 KA 325/22) entschieden, dass gewerbliche Anbieter von Videosprechstunden ihre Leistungen gegenüber gesetzlich Krankenversicherten in Bayern nur unter strikter Beachtung der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen erbringen dürfen. Insbesondere dürfen digitale Zusatzdienste wie Patientenakten, automatisierte Symptomabfragen oder bestimmte Werbeaussagen nicht ohne Weiteres angeboten werden.
Sachverhalt
Die Klägerin, die Kassenärztliche Vereinigung, wandte sich gegen ein Unternehmen (im Folgenden: Beklagte), das bundesweit Online-Videosprechstunden vermittelte. Die Beklagte stellte über ihre Plattform technische Dienste zur Verfügung, darunter digitale Patientenakten, Fragebögen zur Symptomabfrage sowie die Möglichkeit zur Ausstellung elektronischer Rezepte. Zudem warb sie mit Slogans wie „Tschüss Wartezimmer. Hallo Online-Arzt.“
Die Klägerin sah hierin Verstöße gegen den Sicherstellungsauftrag nach § 75 SGB V sowie gegen Marktverhaltensnormen. Sie machte geltend, die Beklagte greife unzulässig in die vertragsärztliche Versorgung ein und unterlaufe bestehende gesetzliche Strukturen, insbesondere den Bereitschaftsdienst.
Die Beklagte verteidigte sich damit, dass sie lediglich als technischer Videodienstanbieter agiere. Sie habe Zertifizierungen nach der Anlage 31b BMV-Ä und halte sich an die Vorgaben der DSGVO. Zudem könnten Versicherte freiwillig in Datenverarbeitungen einwilligen. Man biete lediglich ergänzende Services und unterstütze damit die Versorgung.
Rechtliche Einordnung
Das Sozialgericht München gab der Klägerin teilweise recht. Es untersagte der Beklagten, bestimmte Elemente ihres Angebots weiter zu betreiben oder zu bewerben, darunter:
· zentrale digitale Patientenakten,
· zwingende Patientenregistrierungen,
· automatisierte Symptomabfragen ohne ausdrückliche Einwilligung,
· bestimmte Werbeaussagen („beste medizinische Versorgung“, „von überall“),
· Verknüpfungen mit Versandapotheken, die den Eindruck einer Beeinflussung der Apothekenwahl erwecken,
· sowie Entgeltmodelle, die als unzulässige Zuweisung von Patienten gewertet werden könnten.
Zur Begründung stellte das Gericht klar: Der Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen (§ 75 SGB V) sei ein zentrales Ordnungsprinzip. Gewerbliche Anbieter dürften nicht in dieses System eingreifen, indem sie eigenständig Strukturen der vertragsärztlichen Versorgung etablieren. Auch datenschutzrechtliche Einwilligungen könnten die sozialrechtlichen Grenzen nicht aushebeln.
Allerdings wies das Gericht einen Teil der Klage ab, etwa soweit die Klägerin ein generelles Verbot von Videosprechstunden durch private Anbieter erreichen wollte. Die Beklagte darf
weiterhin als Videodienstanbieter tätig sein, jedoch nur in den gesetzlich vorgesehenen Grenzen.
Fazit
Das SG München verdeutlicht: Digitale Gesundheitsplattformen unterliegen engen rechtlichen Grenzen. Zusatzdienste wie digitale Patientenakten, Symptomabfragen oder bestimmte Werbemodelle dürfen nicht dazu führen, dass gesetzliche Strukturen der Versorgung unterlaufen werden.
Unternehmen, die telemedizinische Leistungen anbieten, müssen ihre Modelle strikt an den Vorgaben des Sozialrechts, des Berufsrechts und des Datenschutzes ausrichten. Verstöße können zu umfassenden Unterlassungsansprüchen führen.
Die Entscheidung ist richtungsweisend für die weitere Entwicklung digitaler Gesundheitsangebote in Deutschland.
Was heißt das für die Arztpraxis?
Auch Arztpraxen setzen zunehmend digitale Systeme ein – etwa bei der Online-Terminvergabe, bei Videosprechstunden oder zur Dokumentation. Das Urteil des SG München zeigt: Ärztinnen und Ärzte müssen genau prüfen, ob digitale Zusatzdienste rechtlich zulässig sind.
Fazit für die (Arzt-)Praxis: Telemedizin ersetzt nicht die rechtlichen Vorgaben der vertragsärztlichen Versorgung. Ärztinnen und Ärzte sollten sicherstellen, dass sie nur solche Tools nutzen, die mit den berufsrechtlichen, sozialrechtlichen und datenschutzrechtlichen Anforderungen vereinbar sind.